Roter Teppich auf der Treppe, pompöses Interiör, langstielige Weingläser. Hallöchen Literaturhaus Wiesbaden! Ich war sehr gespannt auf diese Location, die ich bisher einmal kurz bei einer Austellung besucht habe. Das Umfeld steht der Literatur gut, die hier an diesem Abend eine Bühne bekommt: Terézia Mora ist zu Gast. Dieser Beitrag ist keine Buchbesprechung zu Muna oder die Hälfte des Lebens. In diesem Beitrag geht’s um den gesamten Abend im Literaturhaus. Ein bisschen hinhören und reinfühlen.
Wichtiger Hinweis
Die Autorin in der 3. Person
Wer Terézia Mora in einem Gespräch über ihre Literatur erleben darf, wird schnell eine markante Methode identifizieren, mit der sie über ihre Bücher spricht. Die Autorin wird zur 3. Person, die ihre Figuren als die Handelnden nach vorne schiebt. Zur Entstehungsgeschichte zum Beispiel sagt sie: Die Autorin habe so vor sich hingelebt und habe nachgedacht und dann sei eben diese Hauptfigur erschienen.
Ich mag das. Es lenkt den Blick so charmant auf den Inhalt und auf das Handwerk Schreiben. Es bedeutet auch: Terézia Mora macht keine Ego-Show. Und immer wieder entlockt dieses Stilmittel dem Publikum erheiterte Geräusche.
Auch im Buch wird die Protagonistin nicht aktiv beschrieben. Vielmehr erzählen ihr Handeln und nicht Handeln über sie. „Die Autorin hat versucht mit so winzigen Dingen zu arbeiten“, bestätigt Terézia Mora. Diese winzigen Dinge können beim Lesen unbewusst verarbeitet oder in einer Nachlese analysiert werden (looking at you, Lesekreise). Auf jeden Fall entfalten sie eine Wirkung. So viel höre und spüre ich auch an diesem Abend schon in den beiden Lese-Blöcken heraus. „Alles hat eine Bedeutung, es ist schlimm“, scherzt Mora. Ich sitze in der letzten Reihe, kritzele emsig Notizzettel voll, Handy griffbereit zum Filmen – und bin ganz drin.
“Kommst du da lebend raus?”
An diesem Abend im Wiesbadener Literaturhaus spricht Terézia Mora mit der Literaturkritikerin Beate Tröger. Diese spricht frei; besonders am Anfang entsteht eine angenehme Gesprächsatmosphäre. Die Protagonistin Muna, so erfahren wir, hat kein reales Vorbild und die Kritikerin bestärkt: „So eine Figur muss man literarisch erfinden und keine bekannte Betroffene schildern.“ In Muna Oder die Hälfte des Lebens geht es um die Personen innerhalb einer toxischen und gewalttätigen, hetereosexuellen Zweier-Beziehung. „Du kennst natürlich eine Menge furchtbarer Geschichten aus dem wahren Leben …“, sagt Mora und spricht die drei Pünktchen am Ende hörbar mit. Die Frage in diesen gewalttätige Beziehungen sei: „Kommst du da lebend raus?“ Das Thema sei bei Mora eingeschlagen, als sie einmal in ein einem ausklingendem Jahr den Satz gelesen habe: “Noch 11 Femizide bis Weihnachten”.
„Er ist ein Arschloch was soll denn das?!”
Terézia Mora ist keine Autorin, die es sich leicht macht. Sie geht mittenrein in den Schmerz, in jedweder Hinsicht. Ihre Protagonistin Muna hat keine Kinder. Eine bewusste Entscheidung, um den Personenstamm zu begrenzen, erläutert Mora, und “um die Ausweglosigkeit auch ohne weitere Faktoren zu schreiben”. Magnus, die Täter-Person in der Beziehung, bleibt als Figur im Obskuren, “damit wir kein Verständnis für ihn bekommen können.”
“Wir begleiten Muna, um zu sehen, ob sie das nächste Mal schlauer wird. Sie lernt unglaublich langsam, wie alle meine Hauptfiguren. Ich mag das.”
Es gilt, die geschilderte Dynamik beim Lesen auszuhalten, zum Beispiel: Nach jeder Eskalation werde die Bindung enger. Damit gilt es auch, die Protagonistin auszuhalten: „Er ist ein Arschloch was soll denn das?!”, ruft Terézia Mora während des Gesprächs laut in den Lesungsraum. Ich habe einige Rezenzionen auf Instagram gesehen, die an genau diesem Punkt waren und ihn dann bedauerlicher weise zur Grundlage einer negativen Bewertung für das Buch gemacht haben. Man habe sich nicht “in die Hauptfigur hineinfühlen können”. In Muna gibt es keine auserzählte und vorgefertigte Erklärung für eine komplexe Problematik. Keine parteische Sympathie, keine Heldin. Und genau das erzählt doch das Meiste?
Das Publikum. Und wir?
Meine Begleitung und ich (die wir übrigens den Altersdurchschnitt im Publikum deutlich gesenkt haben, obwohl auch wir bereits je eine 4 an der Zehnerstelle mitgebracht haben) haben an diesem Abend einige interessante Beobachten darüber gemacht, wie “die” Publikumsreaktion sich deutlich von unserer Wahrnehmung unterschied. Fünf gestelzte Zeilen um zu sagen: WHUAT?! stand für uns mehr als einmal als Meta-Comment im Raum.
Auch diese WHUAT-Momente gehören in meinen Nachbericht:
- Zu Beginn des Romans taucht eine Figur namens Noah auf. Wiederholt rufen seine femininen Accessoires bei Muna Irritation hervor. An einer Stelle zählt Muna auf, welche Kleidungsstücke er trägt. Als Terézia Mora das Ende der Aufzählung vorliest, “Brüste trug er nicht”, lachen die meisten im Publikum. Auch die Nennung von Lippenstift im Zusammenhang mit Noah sorgt für weitere Belustigung. Terézia Mora selbst hat die Stellen einigermaßen neutral vorgelesen.
Viel später fällt in einem anderen Zusammenhang der Satz “Alles ist Performance”, der abgenickt wird. Wir sagen: Bitte einfach genauso für Gender übernehmen und annehmen : ) - Im zweiten Leseblock geht es auf Wunsch von Beate Tröger um eine Stelle, die (auch) Akademiker*innenkreise im Literaturbetrieb thematisiert. Es wirkt auf uns ein bisschen wie “Ok, genug vom schweren Thema, jetzt lachen wir mal ein bisschen über uns.” Uns fällt auf, dass die Autorin betont, diesen zweiten Schwerpunkt für den Abend nicht selbst gesetzt zu haben.
Natürlich findet aber auch nach diesem Lese-Abschnitt die Besprechung zum eigentlichen Thema zurück. So gesehen: all fine. - Es kommt zu einer ungünstigen kausalen Nähe von Magnus’ negativen Charakter und Depressionen. Terézia Mora stellt daraufhin klar: “Auch Arschlöcher können depressiv sein” – das Publikum lacht. – Hä? Wird das tatsächlich als inhaltlich witzig empfunden?! Oder war das ein “hihi, sie hat Arschloch gesagt”? Andererseits: Gewaltvolle Beziehungen stellen als Thema klar keine Basis für einen unterhaltsamen Lesungs-Abend. Solche Momente mögen einfach als “comic relief” gedient haben …
- Und auf Platz 1 unserer WHUAT-Skala: Wie zuvor beschreiben, ist die im Roman geschilderte Beziehung kinderlos. Als im Gespräch auf der Bühne die Figur Magnus analysiert wird, sagt Literaturkiritikerin Beate Tröger sinngemäß: Seine Kinderlosigkeit spreche nicht für eine Menschenfreundlichkeit.
(Glücklicherweise lautete Terézia Moras direkte Replik: “Manche Menschen wollen einfach keine Kinder.”)
Dem Blog folgen
Keine Beiträge verpassen, die dich interessieren? Wie das am besten geht, habe ich dir auf einer eigenen Seite aufgeschrieben. Direkt dorthin weiter klicken!
Fazit
Das Literaturhaus Wiesbaden ist absolut einen Besuch wert. Oder mehrere! Natürlich besuche ich Lesungen mit mindestens der gleichen Begeisterung, wenn sie an einem Ort stattfinden, an dem der Boden vom Bier klebt und es keine Literaturkritierin gibt. Aber diese Räumlichkeit entfaltet an diesem Abend eine Wirkung, die ich hier gerne aufnehme. Auch mochte ich die kreative Bestuhlung sehr, von der aus es immer einen guten Blick auf das Podest mit dem Lesetisch gab. Auch dieses (vermutlich mobile) Podest war ideal platziert: ruhig fürs Auge, ein rundum perfekter “Fotospot”. Und Terézia Mora? Die bekommt mit ihrer Literatur von mir ohnehin den roten Teppich ausgerollt. Ganz wie jener, der im Literaturhaus zu Mora und Muna nach oben geführt hat.
Zugabe: Meine Reels zu Terézia Mora
Erster Eintrag in meinem Review Book
Einblick in die Lesung und das Literaturhaus
Folgt spätestens Dienstag
Gib mir dein Feedback: